Die Vorbereitung des Vortrags zum Thema „Sakura“ (Kirschblüte) für eine der digitalen Krystallinen hat mich mit der japanischen Kultur und Philosophie in Berührung gebracht. Seither bin ich tiefer in die japanische Kultur eingetaucht, und mit dem daraus resultierenden anderen Blickwinkel ergeben sich auf für unseren Kulturkreis erstaunliche Erkenntnisse.
Elemente der Philsophie
Ich gebe nicht vor, die japanische Kultur wirklich zu verstehen. Vermutlich wird das jemandem, der nicht dort, sondern unter den so genannten „westlichen Werten“ aufgewachsen ist, auch nie wirklich möglich sein, dazu sind die Kulturen zu verschieden. Betrachtet man die Traditionen in Japan näher, wird schnell offenbar, dass diese allesamt auf der Natur beruhen. Wasser steht für Kraft, aber auch gleichzeitig für Ruhe: Wassergärten in Restaurants sollen auf wartende Besucher beruhigend wirken. Steine oder Erde stehen für den Ursprung allen Seins. Deshalb legt man in Japan Steingärten an, die nicht nur zum Verweilen einladen. Hier besinnt man sich auf seine Herkunft, seine Traditionen, seinen Platz in der Ordnung aller Dinge. Und Pflanzen stehen für das Leben, die Geburt, und auch das Sterben.
Vergänglichkeit feiern
Eine Nuss, an der ich lange zu knacken hatte, ist die Vergänglichkeit, und dass diese in Japan nicht nur begrüßt, sondern sogar gefeiert wird. In der westlichen Welt sind wir es eher gewohnt, über Verlorenes zu trauern. Ob es die erloschene Liebe, ein verschiedener lieber Freund, eine jahrzehntelang ausgeübte berufliche Tätigkeit oder lieb gewonnene Gegenstände sind, die uns in bestimmten Lebensabschnitten begleitet haben: Allem trauern wir hinterher. Und dieses Verhalten wird uns von klein auf antrainiert: die „gute Hose“, die nur zu besonderen Anlässen getragen wird, das „teure After Shave,“ welches im Alltag dem günstigen aus dem Supermarkt weichen muss. Der „Sonntagsbraten“, der unter der Woche nicht gegessen werden darf. Wenn man darüber etwas nachdenkt, wird jeder für Sich noch weitere Dinge entdecken, die sparsam genutzt oder gar aufgespart werden, eben für besondere Tage. Doch – was, wenn man diese Tage nicht mehr erlebt?
Vor dem Hintergrund der japanischen Philosophie ist dieser Satz schlichtweg falsch: Wie alles Vergängliche, ist auch das eigene Leben vergänglich. Wozu also soll man sich in Bescheidenheit üben, anstatt zu genießen, was das Leben bietet? Bedenkt immer, dass niemand weiß, wie viel Zeit ihm im Leben noch bleibt. Daher ist es nicht sinnvoll, zu planen, wann man eine Reise antritt, oder auf eine günstige Gelegenheit dazu wartet. Begebt Euch einfach auf die Reise. Denn wie schnell sich Pläne in Luft auflösen, das hat die Pandemie eindrucksvoll gezeigt.
Nachhaltig handeln.
Aus dem oben gesagten entsteht nun aber eine Gratwanderung. Denn wenn ich das Leben in vollen Zügen genießen soll, dann kündige ich doch meinen Job und lebe einfach in den Tag? Mitnichten.
Japanisch sein heißt auch, demütig sein, nachhaltig sein, im Einklang mit der Natur, der Basis von allem. Diese Nachhaltigkeit setzt meinen persönlichen Wünschen die Grenzen. Und die daraus resultierende Weisheit hilft, sinnvolle Vorsorge gegen maßloses Verhalten abzugrenzen. In Demut akzeptiere ich meine (berufliche) Stellung, und bin stolz darauf, diese auszuüben und bestmöglich auszufüllen. Dies ist meine Aufgabe im großen Ganzen, der ich gewissenhaft nachkommen werde. Doch Demut bedeutet nicht Verzicht!
Japanisch sein heißt vor allem, Dinge einfach machen und auf das Wesentliche zu reduzieren. Japanisch sein heißt, einfache Dinge zu perfektionieren. Und japanisch sein heißt vor allem: Das Leben im Alltag so angenehm wie möglich zu gestalten. Ganz alltäglichen Gegenständen wie Stiften, Regenschirmen oder einer Teekanne kommen so besondere Bedeutung zu und helfen dabei, das Leben des Einzelnen so angenehm wie möglich zu machen.
Vergänglichkeit ist gut!
Bislang war für mich stets unerklärlich, warum in der japanischen Kultur Vergänglichkeit nicht bedauert, sondern eher gefeiert wird. Doch nun, mit diesem Hintergrund, kann ich es nachvollziehen: Der Mensch ist unvollkommen, und vergesslich. Und damit er eben nicht vergisst, dass sein Leben endlich ist, gibt es die Vergänglichkeit. Durch das Vergehen um ihn herum, ob es die Kirschblüte oder eines der anderen unzähligen Beispiele gibt, wird er selbst stetig daran erinnert und kann sein Leben neu überdenken oder Schwerpunkte anpassen.
Darüber hinaus ist das, was nicht mehr ist, plötzlich Ursprung von etwas Neuem: Stand hier vor Jahren noch ein Haus, ist dieses heute durch Krieg oder Verfall zerstört. Dort ein kräftiger Baum, vielleicht geschädigt durch Sturm oder Blitzschlag, gefällt von Arbeitern; das Holz verwertet als Schrank oder Tür vielleicht, Reste davon wohlige Wärme spendend, bleibt im Wald nur ein Stumpf zurück. Kahl. Trostlos. Tot.
Doch die Natur entwickelt sich, und was gestern noch tot war, wird heute lebendig, in dem andere Pflanzen Besitz ergreifen von Stein und toten Stamm und sich daraus selbst eine Lebensgrundlage schaffen.
Darum feiern Japaner die Vergänglichkeit. Und auch wenn es mir wegen meines anderen kulturellen Hintergrundes schwer fällt: Ich feiere mit!