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Ein Wintermärchen

Es ist 1952, mein erstes Jahr in Schweden. Im Sommer bin ich 21 geworden. Seit meiner Ankunft im Mai wohne ich in Stockholm und jetzt ist es Dezember und kurz vor Weihnachten, da ist es wie in allen Großstädten, dunkel, nass, kalt, windig und matschig. 

König Gustav VI., Adolf, der Großvater von Carl Gustav, feierte am 11. November seinen 70. Geburtstag, da fiel schon der erste Schnee. 

Daher will ich einen kurzen Urlaub machen und den Jahreswechsel im Schnee verbringen. Ein Kollege empfiehlt mir ein Hotel in Dalarna, das hauptsächlich junge Leute frequentierten.

Als großstädtischer Flachländer will ich zudem das Skilaufen erlernen. Also fahr ich in den Norden, nach Dalarna, dicht an die norwegische Grenze ins Sälens Sport Hotel, auf einem Bergrücken gelegen, dicht unter der Baumgrenze.

Als ich dort ankomme, herrscht ein fröhliches Leben und Treiben einer Gruppe junger Leute aus Göteborg, die hier auch über die Feiertage zum Skilaufen sind.   

Der erste Morgen nach meiner Ankunft ist ein schöner, sonniger Tag. Es ist kalt, aber die trockene Luft lässt einen die Kälte kaum spüren. Die anderen sind schon am Übungshang, von den Veteranen boshaft und überheblich Idiotenhügel genannt.

Frohes Lachen schallt herüber.

Vor dem Hotel schnalle ich meine neuen Ski an. Der Skilehrer hat sie mir geliehen, Esche massiv mit Stahlkanten!

Und los geht es.

Am Idiotenhügel wird dann mit den anderen unter viel Lachen, Rufen und Bodenberührung geübt: Schneepflug, Stemmbogen, Telemark und Kristiania,  ja und eben viel Boden.

Als ich wiederum einmal zu Boden gehe, geschieht das mit verhedderten Ski genau vor einem Skihasen. Mit einem fröhlichem Lachen hilft sie mir auf die Beine und schlägt mir den Schnee vom Anorak.

Ich blicke in ein Gesicht wie Milch und Honig, blonde Locken schauen unter der Wollmütze hervor, unter der hohen Stirn kühn geschwungene Augenbrauen und strahlend blaue Augen, sie ist eine wunderschöne junge Frau, in meinem Alter, vielleicht ein bischen älter.

Als ich wieder stehen kann gibt sie mich frei und sagt mit einem Lächeln. „Du musst schon Langlaufen, wenn du die Schönheit der verschneiten Landschaft erleben willst, statt hier an diesem Idiotenhügel herum zu rutschen.“  Sie sagt das ohne Spott, ihre Augen strahlten.

Ich frage: „Ja, nimmst du mich denn mit?“, und sie sagt einfach: „Ja, na klar.“ So ziehen wir die nächsten Tage nebeneinander unsere Spur durch die verschneite Landschaft, vorbei an schneebeladenen Tannen, die wie Skulpturen im Gelände stehen. Ab und zu stolpere ich, auch Langlaufen ist für einen Neuling nicht so einfach und so verheddern sich meine Ski hin und wieder und ich stürze, aber dann ging es immer besser. Außerdem habe ich die schönste Ski-Lehrerin der Welt neben mir.

Sie heißt Liv, kommt auch wie die anderen aus Göteborg und studiert dort Germanistik. Nachdem sie meinen Akzent gehört hat, spricht sie Deutsch mit mir. Sie ist völlig unbefangen und frei, hat Humor und lacht gerne. Und wie ich sagte, wunderschön. 

Es sind ein paar herrliche Nachmittage. Aber im Norden wird es früh dunkel und so müssen wir schon um drei Uhr zurück ins Hotel. So laufen wir mehrere Tage durch die Loipen. Das Wetter ist uns hold, wir lachen viel, und sie spricht so ein drolliges Deutsch mir ihrem schwedischen Akzent. Den Silvester-Abend feiern wir bei Punsch und Glühwein und tanzen den ganzen Abend zusammen.

Kurz vor Mitternacht ziehen wir uns warm an und treten ins Freie, um das neue Jahr zu begrüßen.

Wir suchen uns einen stillen Winkel abseits von den anderen und bewundern den Sternenhimmel. Die Sterne glitzern hell an einem tiefschwarzen Himmel, wie er nur in der trockenen Luft der Polarnacht zu sehen ist, und der Mond gießt ein mildes weiches Licht über die Landschaft, am Horizont flackert das geheimnisvolle Feuer des Nordlichtes. Es ist schon fast kitschig. Wir knutschen ein bischen, dann zeigt sie auf den Mond und fragt: „Kennst du „Mondnacht“ von Eichendorff?“ Ich sage, leider nicht, ich habe mich noch nicht für Poesie interessiert.

Da spricht sie leise:

Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküßt,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst'.

Die Luft ging durch die Felder
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Sie sagt es sehr leise und mit viel Gefühl. Und so lerne ich dieses Gedicht in der Silvesternacht 1952, und es ist seit diesem Abend mein Lieblingsgedicht.  

So sitzen wir und und halten uns umarmt bis Mitternacht. Da klingen die Glocken der kleinen Kirche aus dem Tal hinauf: das Jahr 1953 beginnt. Wir küssen uns, und wünschen uns ein glückliches, friedvolles, neues Jahr.

Wir gehen zurück zu den anderen und tanzen noch die halbe Nacht.

Am nächsten Tag ist unser beider Urlaub zu Ende und wir müssen zurück. Ich habe sie nie wiedergesehen, aber nie vergessen.

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